zeitgeschenk

Jasmina Cavkunovic
Geisterstunde, Weihnachtszeit 2017. Offenbar hatte ich vergessen, die Verkleidung abzulegen, als Halloween vorbei war. Method-Acting-Perfektion, ich gab mich meiner Rolle hin, ich lebte mein Kostüm und verschwand.
Unsichtbare Menschen suchen oft belebte Straßen auf, so ging auch ich eines Nachmittags an eine Einkaufspromenade. Hier herrschte eine stille Übereinkunft, welche Miene zu tragen ist, denn Trends vergehen, doch der altbekannte Weihnachtsstress kommt nie aus der Mode. Ich spürte meine Transparenz wie einen Gelsenstich am Arm; der Fakt, dass jeder einen hatte, sollte helfen, aber ich konnte nicht aufhören, daran zu denken. Reibung entstand in meinem Kopf, einst Wärmendes fing an zu brennen, Gedanken kratzten an dem Stich, bis er zu bluten begann.
Ich glaube, dass auch du ein Geist für viele Menschen warst. Sie gingen an dir vorbei, mit ihren Blicken zu Boden gerichtet, als hätte Narziss höchstpersönlich tausend Doppelgänger, die ihr Herz im schmutzigen Asphalt gespiegelt sehen. Dir hat ein Bein gefehlt, so stütztest du dich mit einem Arm auf deiner Krücke ab. Doch dein Stand war sicher, deine Stimme kräftig; du sprachst jeden offen an, ganz gleich, ob er deine Zeitung kaufen würde oder nicht. Wir kamen ins Gespräch, wir beide; worüber wir gesprochen haben, weiß ich nicht mehr, aber du sahst mich und ich sah dich, und ich sah mich selbst durch dich.
Obwohl ich dir mehr Geld gab, als die Zeitung eigentlich gekostet hat, wünschte ich, ich hätte dir mehr gegeben, denn der Eindruck, den du hinterließt, war unbezahlbar. Wie eine Kompresse auf meiner Wunde wirkten deine Abschiedsworte: „Pack’ deine Geldbörse schnell wieder ein, es sind so viele Leute unterwegs. Pass’ auf dich auf.“
Die Menschen suchen nach Besinnlichkeit in prächtigen Schaufenstern. Sie zeigen sich wählerisch, was Wärmeempfinden angeht, vollgepackte Läden verfluchend und sich zugleich nach Nähe sehnend. Die Union der Einsamkeit hielt zur Weihnachtszeit ihren Kongress ab – sie mochte dich nicht, weil du ihr ihre Mitglieder abwarbst. Du hast Licht gespendet am finstersten Tag, du schenktest Gehör in der schreienden Stille, du wurdest missachtet, doch du achtetest jeden.
Die Zeit, sie mochte die Wärme dieser besonderen Erinnerung, so nahm sie Teile davon als Souvenir mit, die mir nun nicht mehr greifbar sind. Dein Gesicht, die Farbe deiner Stimme verblasste langsam, so bastelte ich aus dem Gedankenstoff, der mir verblieb, eine Patchwork-Decke – meinen Wärmespender seit drei Jahren. Du sahst mich, als ich mich verlor, und ich seh’ noch heute, vor dem Modegeschäft am Straßeneck, deinen Geist.