Der Weihnachtshandschuh

Jack_Lemon
Wie jedes Jahr kurz vor Weihnachten, begebe ich mich noch einmal in meine Stamm-Nierenambulanz. Wobei sich „Stamm“ anhört, als ob ich gerne dorthin gehen würde. Aber wenn man ein Nierenleiden hat, ändert sich vieles. Und was am meisten Energie stiehlt, sind die Arztbesuche, die sich anfühlen wie das Lesen von Marcel Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“.
Der besagte Ort in der Wiener Rudolfstiftung ist ein enger Krankenhausgang mit ein paar Stühlen. Die Anmeldung ein stilles Kämmerchen, in dem erwartet wird, dass man eintritt, nur damit man hören darf: „Woarten‘S bitte droaßn“.
Nun ja, zumindest war sie das bis zu jenem Jahr, als ich vor gähnender Leere stand. Neben mir eine ältere Dame vom Wiener Schlag, adrett gekleidet, wie es die „gnädigen Damen“ eben sind. Der nächste Mensch in Weiß informiert uns, dass die Nierenambulanz in ein benachbartes Gebäude gewechselt hatte. Man könne wohl unterirdisch dorthin.
Also machen wir uns auf den schlecht beschriebenen Weg, der uns zuerst in den Keller führt. Zweimal verlaufen wir uns in den unheimlichen Tunneln und müssen nach dem Weg fragen. Die Dame schlurft langsam vor sich hin, und ich drossle mein Tempo, damit sie den Anschluss nicht verliert. Meine sinnlos vollgestopfte Laptoptasche hängt sich mir schmerzvoll an.
Nach zwanzig Minuten haben wir es endlich geschafft und sitzen uns in der neuen Ambulanz gegenüber. Sie lächelt mich an und wir plauschen darüber, wie verwirrend Krankenhäuser doch sein können.
Auf einmal fängt sie an in ihren Taschen zu wühlen und sieht mich entsetzt an: „Jetzt habe ich auch noch meinen Handschuh verloren!“ Ihre Stimme wirkt noch zerbrechlicher als ihre schmale Statur.
„Wahrscheinlich in der anderen Ambulanz“, meint sie, ohne sich mir anzubiedern. Sie erzählt mir, wie lange sie die Handschuhe schon hat und wie besonders sie sind. Man merkt, wie sehr sie daran hängt, wie die ältere Generation nun mal an der Vergangenheit hängt.
Wir sitzen so da, aber ich schaffe es nicht mir vorzustellen, wie das gebrechliche Mütterlein die Tortur des Krankenhauslabyrinths wieder auf sich nimmt. Wortlos stehe ich auf, schleppe mich und meine Tasche wieder in den Keller, durch die Tunnel, verlaufe mich wieder, komme an. Zum Glück liegt der Handschuh wie erwartet dort.
Als ich ihn ihr aushändige, schlägt sie die Hände zusammen und wirkt den Tränen nahe: „Sie haben sich wirklich die Mühe gemacht?“
„Sie wurden bereits aufgerufen“, sagt mir eine andere Patientin.
Nun schlägt sie die Hände über dem Kopf zusammen „Und Sie haben auch noch Ihren Termin verpasst!“
Eindringlich schaut sie mich an, während sie ihren Handschuh an sich presst. „Das ist wirklich ein Weihnachtsgeschenk!“, meint sie mit Tränen in den Augen. Nun bin auch ich den Tränen nahe. Vielleicht weil ich zu wenig geschlafen habe, oder weil ich Arztbesuche satt habe. Oder einfach nur weil ich gerührt davon bin, wie leicht es sein kann jemandem eine Freude zu machen. Frohe Weihnachten!