Der Fremde

Waltraud Lehofer
Er war schon da, als wir einzogen. Der Asylant, der Inder, so nannte ich ihn, weil ich mir seinen Namen nicht merken konnte. Elf Jahre lang grüßten wir einander im Stiegenhaus, er stets mit einem Lächeln und einer kleinen Verneigung, etwas distanziert, aber auf eine Art vornehm. Täglich gegen Abend verließ er das Haus und kehrte erst früh am nächsten Morgen zurück. Und jeden Morgen lag ein Packen Zeitungen vor unserer Tür. Elf Jahre lang lebten wir auf diese Weise nahezu wortlos Tür an Tür. Nie habe ich in all den Jahren eine Frau bei ihm gesehen oder Freunde und nie habe ich auch nur eine einzige Frage an ihn gerichtet. Ich fühlte mich dem Fremden gegenüber ziemlich hilflos. Eines Tages kamen plötzlich Männer in weißen Schutzanzügen mit Schirmmasken und Sprühgeräten. Wir wurden per Bescheid aufgefordert, uns unverzüglich bei der Gesundheitsbehörde einem Lungenröntgen zu unterziehen. Wegen des Kontaktes zu einem an einer infektiösen Krankheit Verstorbenen klärte man uns auf. Der Inder! Der Mensch ohne Namen und Geschichte, dem beides zu gewähren ich mir nicht die Mühe gemacht hatte, war tot. Bei seinem ersten Besuch in seiner Heimat, fünfzehn Jahre nach seiner Flucht und zähem Ringen um den Erhalt wenigstens des humanitären Bleiberechts, hatte sich der einzige Sohn eines wohlhabenden Kaufmanns mit Tuberkulose angesteckt, erzählte man sich im Haus. Jetzt wohnen Ela und Abbas aus Afghanistan in der Wohnung des Inders. Warum ich ihre Namen kenne? Weil ich sie so oft danach gefragt habe, bis ich sie mir merken konnte. Ich habe ihnen meine Hilfe angeboten, mit Händen und Füßen die Funktion der Biomülltonne zu erklären versucht und meinen Wäschetrockenplatz mit ihnen geteilt. Ich helfe ihren Kindern Ali und Mina bei den Schulaufgaben und hab’ schon eine Menge dazu gelernt. Wissen Sie, was Sambosa ist? Nein? Fragen Sie einfach einen Fremden! Reden Sie ihn einfach an!