Russischroulette

thestorycurator
Weihnachten ist wie eine Mischung aus Russischroulette und Lotto. In meiner Familie hat man eine 1:1.000.000 Chance, dass es schnulzenfilmmäßig wird. Und trotzdem bin ich Team Christkind.
Lebkuchen im August, Weihnachtslieder im September. Ich backe 15 Kekssorten, schäle mir meine Finger an den Maronis wund. Ich bin eine Sissi-Trilogie-Anhängerin und mein alljährlicher Weihnachtsfernsehmarathon gipfelt in den Traumschiff Specials. Und die Lichterketten! Ich hänge sie überall hin, um den potenziellen Einbrechern das Leben zu erleichtern. Ich stehe total auf mein kleines Opa-Ritual: Jedes Jahr am 23. gehen wir in den Wald und kappen die Spitze eines Tannenbaums für den Christbaum.
Und dann… Heilig Abend.
Alles muss perfekt sein: das Essen, der Baum, die Deko, das Benehmen und vor allem die rissige Fassade der happy family. Und dann pure Eskalation, weil die unterjährig angesammelten Schreckgespenster durch die Risse kriechen. Streit und Krieg und dann gibt es Tränen, die dem Schnürlregen Konkurrenz machen.
Jedes Jahr zu Weihnachten wache ich auf und denke: NICHT SCHON WIEDER. Seit zehn Jahren bleibt das 24. Türchen im Adventskalender verschlossen und trotzdem passiert Heilig Abend.
Hier ein kleiner Einblick:
2012: Opa ist mit Glühmost befeuert, reißt beim Tanzen das Tischtuch an sich, um Halt zu finden, befördert dadurch das ganze Festmahl (15 Stunden Küchendienst) auf den Esszimmerboden.
2013: Papa poliert die Weingläser, weil sie sauberer als sauber sein müssen, poliert dabei so gut, dass er den Stängel abbricht, er ihn sich in die Hand rammt, wie Schwein blutet und genäht werden muss.
2014: Die Katze frisst wieder mal Lametta und speit es froh und munter in Mamas neue UGG Boots.
2015: Der Adventskranz begeht Selbstmord durch Kerzenbrand.
2016: Oma torkelt mit Eierlikör und Herztabletten intus in den Christbaum und reißt ihn samt der schönen mundgeblasenen Kugeln in den Tod.
2017/18 fiel auch ins Wasser: Vater und Mutter machten aus dem Kind ein Scheidungskind.
Und dann 2019: Bei Mama gabs Proud Mary auf der Gitarre mit selbstgetextetem Gesang, der dem Schampus huldigt und das Christkind besoffen zurücklässt. Ich spiele mit meiner kleinen Stiefnichte Hoppe Hoppe Reiter und esse zu viel Punschkrapferl.
Bei Papa gings Rumänisch zu – herrlich unweihnachtlich: die Stiefmama-Family lernt mir Schimpfwörter und füttert mich mit Nussstrudel.
Nachts saß ich am Balkon, hatte einen Brief ans Christkind von 2003 in der Hand:
Liebes Christkind, ich mag ein Weihnachten ohne Weinen und eine Barbie. Danke. Deine Tanja.
Ich heulte los. Die Tränen blieben an meinen kalten Wangen hängen. Tränen der Erleichterung. Den ganzen Tag war ich ihm Fight- or Flight-Mode gewesen, konnte den Tag nicht unbeschwert genießen, weil ich auf den großen Knall warte, aber es kam keiner.
1:1.000.000.
Ergo öffnete ich das letzte Türchen vom Adventskalender. Salz- und Pfefferstreuer in Form von Busen und ein Zettel: Hab dich lieb, Bussi Mama.