Engel – gibt’s die?

Uwe Böschemeyer
Ich war mit meinem Auto, das schon einmal bessere Zeiten gesehen hatte, auf dem Weg von Hamburg zu einem Vortrag in eine ca. 240 Kilometer entfernte Stadt. Kurz nach Beginn der Fahrt geschah es: Ich befand mich auf einer Auffahrt zur nächsten Autobahn, als sich mein Auto plötzlich um seine eigene Achse drehte. Es sah so aus, als ob mein altes Gefährt wenig geneigt war, mich in die noch weit entfernte Stadt zu chauffieren.
Leicht benommen stieg ich aus, sah mich um und entdeckte etwa 50 Meter hinter mir ein anderes Auto, das angehalten hatte. Der Mann, dessen Gesicht ich nicht erkennen konnte, stieg aus. Ich erwartete eine unangenehme Begegnung, denn ich blockierte seine Weiterfahrt. Doch er schimpfte nicht. Er fluchte nicht. Er gestikulierte nicht wütend mit seinen Armen, wie ich es aus anderen Situationen kannte. Stattdessen rief er mir nur freundlich zu, ob „alles in Ordnung“ sei. Mehr nicht. Meine Antwort fiel (leider) etwas kurz aus: „Ja, danke.“
Dann setzte ich mich wieder ans Lenkrad, wendete den Wagen und setzte meine Fahrt wie selbstverständlich fort. Seltsame Geräusche des Autos, die ich nicht näher orten konnte, begleiteten mich bis zum Ziel. Das Sonderbare war, dass ich während der langen Fahrt fast sorglos blieb. Immer wieder hörte ich leise dieses „Alles in Ordnung?“ Und ebenso leise fragte ich mich: „Engel – gibt’s die?“
Wochen später fiel mein Blick in der Vorhalle meiner Reparaturwerkstatt auf einen Mann. Er sah mich mit großen Augen an. Dann war er verschwunden. Mir schien, als habe es sich um jenen freundlichen Menschen auf der Autobahnauffahrt gehandelt. Vergessen habe ich ihn nie. Inzwischen sind Jahrzehnte vergangen.
Irgendwann fand ich ein Gedicht von Rudolf Otto Wiemer, das mich an jenen unbekannten Mann erinnerte: „Engel müssen nicht Männer mit Flügeln sein. Manche gehen leise, müssen nicht schreien … Sie haben kein Schwert, kein weißes Gewand. Vielleicht ist einer, der gibt dir die Hand, oder er wohnt neben dir, Wand an Wand..."
Ich schreibe diesen Text am Beginn der Advents- und Weihnachtszeit. Sie wissen, liebe Leser, dass in einer der berühmtesten Geschichten der Welt, der biblischen Weihnachtsgeschichte, auch von Engeln die Rede ist. Sind denn diese Wesen nicht von ganz anderer Art als mein “Engel” von der Autobahn? Manche nennen die Weihnachtsengel Projektionen sehnsüchtiger Wünsche an den Himmel, weil das Leben auf unserem Planeten so viele Wünsche unerfüllt bleiben lässt?
Sicher ist, dass die Weihnachtsgeschichte mit ihren Engeln noch heute weltweit die Herzen der Menschen berührt. Deshalb frage ich, ob es Wirklichkeiten gibt, die sich vor dem menschlichen Verstand nicht rechtfertigen müssen?