1924

Dora73
Es war ein sonniger Herbsttag Ende September, zwischen den beiden Lockdowns. Ich setzte mich am Vormittag in den Schanigarten der Bäckerei, die auch ein Kaffeehaus betreibt. Ich genoss meinen Kaffee in der Wärme der letzten Sonnenstrahlen. Ein älterer Herr mit Stock näherte sich der Bäckerei. Da sich mein Tisch neben der Eingangstür befand und ich den Mann mit Stock kommen sah, fragte ich ihn ob ich ihm die Tür aufhalten sollte. Er sagte “nein, nein danke - geht schon” und lehnte sich, mit strahlenden Augen und einem schelmischen Lächeln, auf den freien Stuhl an meinem Tisch. “96” sagte er zu mir gebeugt. Ich konnte es zwar akustisch verstehen, jedoch “die Zeichen nicht deuten”. Ich sah in fragend an und gab zurück “was 96?" Schmunzelnd sagte er “96 Jahre bin ich”. Ich war verblüfft - was wirklich nicht oft vorkommt und gab zurück “wow, gratuliere, Sie haben sich aber gut gehalten”. Nicht ganz ohne Stolz gab er lachend zurück “ich weiß, ich werde oft viel jünger geschätzt”. Dann kam das Wesentliche an dieser Begegnung für mich. Er begann zu erzählen, dass er als 15jähriger eingezogen wurde. In den Krieg nach Frankreich musste und wie er Angst um sein Leben hatte. Es war bedrückend zu hören, was dieser Mensch in so jungen Jahren erleben musste. Das Gespräch dauerte nur paar Minuten und war im wahrsten Sinne nur zwischen Tür und Angel, da er ja in die Bäckerei wollte. Ich habe in sehr kurzer Zeit nur einen Bruchteil von dem erfahren, was in seinem 96jährigen Leben tatsächlich alles passiert ist. Trotzdem oder gerade deswegen berührte mich seine Geschichte und die Persönlichkeit des Mannes sehr. Es war das Funkeln in seinen Augen und seine positive Ausstrahlung, die er sich trotz aller Krisen und traumatischer Erlebnisse bewahren konnte, die mich faszinierten. Speziell, in Zeiten des allgemeinen Corona Frustes war diese Begegnung Balsam für die Seele und wirkte in mir lange nach. Ich wünsche ihm, dass er noch viele Jahre vor sich hat und seinen Esprit weiter versprühen kann und uns, dass wir uns darauf besinnen, was wirklich zählt im Leben. Diese kleine Alltagsbegegnung ist für mich ein Teil davon.