Und es gibt sie doch

Andrea Kerstinger
Nach einem gemütlichen Einkaufsbummel sitzen wir in der Villacher Fußgängerzone und gönnen uns ein Bier. Es ist Ende September und leider hat der Regen des Vortages einiges an Kälte mitgebracht. Doch davon lassen wir uns nicht beirren, wir sind warm genug angezogen, um draußen sitzen zu können. Mein Mann und ich genießen einfach das kinderfreie Wochenende und freuen uns schon auf die kulturelle Darbietung am Abend.
Zufrieden schaue ich mich um. Hinter uns sitzen drei fein gekleidete Herrschaften und gleich am Nebentisch schimpft ein einsamer Gast laut vor sich hin. Leute gibt's, denke ich und wende den Blick wieder ab.
Doch dann schlurft plötzlich ein Mann vorbei. Seine Kleidung ist abgewetzt und dreckig, die Haare sind verfilzt und sein Anblick ist mehr als mitleidserregend. Auffallend ist, dass nur einen Schuh trägt, der andere Fuß ist unbedeckt. Der Mann am Nebentisch ruft ihn zu sich: “Komm her, magst was trinken? Ich lad dich ein!” Welch nette Geste! Demütig und dankbar setzt sich der Alte dazu und lässt sich bereitwillig ein Achterl Rot hinstellen. Der Kellner bringt ihm auch ein Glas Leitungswasser, das zunächst unberührt bleibt.
Beim Gespräch zwischen den beiden Gästen stellt sich heraus, dass der alte Mann nicht weiß, wo er seinen zweiten Schuh verloren hat. Er vermutet, dass ihm dieser gestohlen wurde. Wahrscheinlich in der Nacht, die er wie immer draußen verbracht hat. Der Jüngere gibt dem Alten Tipps, wo er sich Kleidung und Schuhe besorgen kann. Beim Bahnhof soll es eine Caritas-Stelle geben. Doch bis dorthin ist es ein Stück und außerdem ist doch schon Nachmittag. Wer weiß, ob die am Samstag noch offen haben.
Wie könnte man rasch helfen? Der Blick meines Ehemannes fällt auf die Einkaufstaschen. Er überlegt, ob er einfach das neu gekaufte Paar anziehen soll, um dem Obdachlosen die Schuhe zu geben, die er gerade anhat. “Wenn wir zuhause wären, dann würde ich jetzt heimfahren und ihm Kleidung und Schuhe holen", überlegt er laut. “Ich hab ja genug herumliegen, was ich nicht mehr brauche.”
Währenddessen beobachte ich, wie sich die adrett angekleidete Dame am Nebentisch mehrmals umdreht. Im ersten Moment denke ich, dass sie sich am Anblick des Alten stört, doch dann sehe ich, dass sie telefoniert. Plötzlich ruft sie zu ihm herüber: “Wir besorgen dir Schuhe und Gewand, du kannst doch nicht so leicht bekleidet herummarschieren!" Ihr Bekannter macht sich gerade auf den Weg, um das Notwendigste zu organisieren. Beim Kellner bestellt die Dame noch ein Mittagsmenü für den Herren. “Komm in der Zwischenzeit in mein Geschäft, dann musst du nicht frieren!”, sagt sie und führt den Obdachlosen wie selbstverständlich in ihren noblen Trachtenmodeshop vis-à-vis vom Lokal.
Jetzt bin ich wirklich baff, das hätte ich nicht erwartet! Wie leicht man sich doch täuschen kann! Schnell drücke ich dem Mann noch einen Geldschein in die Hand, was er mit einem Lächeln quittiert.
Wie schön, dass es doch noch gute Menschen gibt!