Dem Christkind ganz nah

Nicole Malzahn
Aufgeregt streifte das kleine Mädchen durchs Haus. Wie langsam doch die Zeit vergeht, wenn man sehnlichst auf etwas wartet!
In jedem Zimmer huschten seine Blicke wachsam zum Fenster, suchten den Himmel ab, der allmählich von der Abenddämmerung überzogen wurde. Hier und da funkelte schon ein Stern.
Doch was war das? Ein Aufblitzen, dann war es wieder weg. Das Mädchen stieg auf den Fernsehsessel, der am Fenster stand, brachte sein Gesicht ganz nah an die Scheibe und schirmte mit den Händen das Licht der Wohnzimmerbeleuchtung ab. Da, schon wieder! Ob das wirklich… Konnte es sein?
Der Geruch von Weihrauch und Tannenzweigen stieg ihm in die Nase. Oma strich dem kleinen Mädchen über die Haare und flüsterte ihm zu, dass nun bald das Christkind käme. Oma hatte mit Mama in den letzten Wochen viel Zeit im Keller verbracht. Dort hatten sie Adventkränze gebunden und hübsche Gestecke mit Tannenzapfen und allerlei Gewürzen gebastelt. Das Mädchen hatte ihnen oft geholfen und Weihnachtslieder gesungen, die es in der Schule gelernt hatte. Manchmal hatten Mama und Oma eingestimmt. Diese Zeit voller Geborgenheit und Kerzenduft und harzfleckiger Hände war wie im Flug vergangen!
Oma scheuchte das Mädchen aus dem Wohnzimmer, damit das Christkind bald ungestört die Bescherung vorbereiten konnte.
Leise Zweifel tauchten auf – trotz des Blinkens am Himmel. Warum durfte es nicht dabei sein, wenn das Christkind kam? Ihm helfen, es ansehen, mit ihm sprechen? Nur einmal hatte es ein Bild von ihm gesehen, die Zeichnung eines kleinen Kindes mit blonden Locken. Ob es sich um einen Jungen oder ein Mädchen handelte, war nicht zu erkennen gewesen. Es dachte auch an die vielen Pakete, die das kleine Christkindchen zu schleppen hatte.
Grübelnd setzte es den Streifzug durchs Haus fort. Als es die Treppe zur Tante hinaufstieg, war plötzlich Getuschel durch die angelehnte Türe zu hören. Mit wem sprach die Tante da? Das kleine Mädchen spitzte die Ohren, als es oben angekommen war, aber die Stimmen waren einfach zu leise. Dann hörte es die Tante wispern: „Pfiat di, Christkind!“
Das Herz hüpfte aufgeregt in seiner Brust, als es langsam die Türe aufstieß. Es sah gerade noch, wie die Tante das Fenster schloss, ein blondes Löckchen vom Boden aufhob und leise schmunzelte.
Nie war das kleine Mädchen dem Christkind näher gewesen!
Noch heute verbinde ich Weihnachten mit diesem ganz besonderen Duft nach Tannenzweigen und Kerzenwachs – und dem Erlebnis an der Türe meiner Tante.