Gerettet?

Elfie-F
Ein kleiner blauer Wagen steht auf der Anhöhe am Rand der schmalen Straße. Die Fenster sind nach beiden Seiten hin geöffnet. Im Vorübergehen sehe ich einen jungen Mann, dunkles, lockiges Wuschelhaar, gepflegter Bart. Wie ich, genießt er seinen Blick auf das mit feinem Dunst verhangene Bergpanorama in der Ferne. Warum steigt er nicht aus und läuft los? frage ich mich. Aus einem Reflex heraus gehe ich einen Schritt zurück und spreche ich ihn direkt an. Er erschrickt, scheinbar hole ich ihn damit aus seiner Gedankenwelt. Er lächelt. Seine Antwort: „Ich bin einfach faul“ klingt für ihn plötzlich selbst nicht mehr gut und schiebt sogleich hinterher „Sie haben recht, hatte es eigentlich auch vor, doch dann.... na, ja dachte ich, der Weg ist sicher matschig und ich habe keine Lust, wieder mit dreckigen Stiefeln heimzukommen. Zu Hause steht noch ein Paar, welches ich sauber machen müsste“, lacht wieder und schickt sich sogleich an, auszusteigen, nicht ohne sich für meinen „Weckruf“ zu bedanken. Ich wünsche ihm viel Spaß auf seiner Tour.
Ich biege rechts ab auf den mir so bekannten Wanderweg entlang des Waldrands, welcher den Blick freigibt, über grüne Wiesenflächen mit den jetzt kahlen Kirschbäumen, bis ins Tal. Das sagenhafte Panorama auf der anderen Seite gleicht mit den Konturen unterschiedlicher Gipfelhöhen einer feinen chinesischen Tuschezeichnung.
Mit meinem Handy halte ich diesen Moment in einem Foto fest. Dann merke ich, dass auch der junge Mann diesen Weg nimmt. Ich laufe parallel zu den Hecken, die ihn linkerhand eingrenzen, über die Wiese bis wir am Ende zusammentreffen. Schnellen Schrittes steigen wir in Abstand gemeinsam weiter hinauf, während wir uns über das herrliche Wetter an diesem ersten Advent unterhalten, welches uns dazu noch in der Zeit des Lockdowns hilft, die Tage bis Weihnachten trotzdem zu genießen. Wir lassen uns auf den jeweils äußeren Enden einer Bank am Wegrand nieder. Mit der Sonne auf unseren Gesichtern erfahre ich, dass er durch das Virus, als selbstständiger Tennislehrer, nun ebenfalls arbeitslos geworden ist. Jetzt muss er erstmal lernen, mit der geschenkten Zeit und wenig Geld zurechtzukommen. Viel erfahre ich über sein Leben, sogar dass er seit zwei Jahren unglücklich verliebt ist. Offenbar habe ich bei ihm eine Schleuse geöffnet. Das Weihnachtsfest, es wird für ihn, wie auch für mich ein recht einsames werden, aber nicht der heutige Tag. Als wir später wieder an unserem Ausgangspunkt sind, meint er: „Ganz lieben Dank dafür, dass Sie mir einen Schubs gegeben haben. Die Natur und das Gespräch mit Ihnen haben mir sehr viel gegeben“.
Habe ich ihn vielleicht gerettet? In einer Zeit, die kaum eine Begegnung zulässt, hat auch er mich vor zu viel Grübelei bewahrt und diesen Tag erhellt.