Leuchten müssen wir

Johanna Floss
Es war ein trüber Tag, dunkel, finster und kalt. Es war ein Tag im November, der eingeladen hätte, nicht auch nur einen Schritt hinauszutun. Und dennoch waren wir auf die Straße gegangen, hatten unseren Weg eingeschlagen und waren eingetreten in das Haus der Kinder. In dessen Räumen herrschten weder Trübnis oder Dunkelheit noch Finsternis oder Kälte. Es war warm darin und es versprühte Zauber, kindlichen Zauber, und Magie, so als könnte es Dunkelheit in Licht umwandeln, Missgunst in Wohlwollen, Hass in Liebe. Wir fühlten uns darin geborgen und schlossen die Türe hinter uns, hoffend so die Welt mit all ihren Sorgen und Problemen hinter uns lassen zu können. Aber unsere Gedanken konnten wir nicht aussperren und so folgten uns diese ungewollt in das Haus hinein.
Wir nahmen Platz in einem großen Saal, auf einem kleinen Stuhl, gemacht für Kinderpopos und nicht für die unseren. Leise drang die Weihnachtsmusik an unsere Ohren, beruhigte unsere rasenden Herzen, ohne jedoch die Gedanken an die Dunkelheit der Welt übertönen zu können.
Als das Licht in dem Saal erlosch, richteten sich unsere Augen in die Mitte des Saales. Wir Eltern warteten alle auf das Erscheinen unserer Kinder. Dunkel war es, lediglich der Schein der Laternen bot etwas Licht. Plötzlich entdecke ich das Mädchen. Rot leuchten seine Wangen wie Schneewittchens Apfel, hell glänzen seine dunklen Augen wie die Strahlen der Sonne. Das kleine Mädchen trägt ein Lächeln im Gesicht, ein Dirndlkleid am Leib und wippende Zöpfe auf seinem Haupt. Es führt wie auch die anderen Kindergartenkinder seine Hände zum Gesicht, verdeckt mit seinen Fingerchen die Augen. Die Kinder setzen ihr Lied an: „In der Welt ist's dunkel!“
Die Worte des Liedes lassen mich nicht los. Ist es das, dunkel in der Welt? Ich grüble, hadere mit der Antwort. Ja, die Welt ist dunkel, tiefdunkel, rabenschwarz ohne jeglichen Glanz, ohne Licht. Schicksalsschläge im Kleinen, das Weltgeschehen im Großen. In der Welt herrscht Dunkelheit - in der Großen genauso wie in meiner Kleinen.
Doch da trifft mein Blick auf jenes kleine Mädchen mit den wippenden Zöpfen, das frech zwischen seinen Fingerchen durchlugt und mit tiefer Stimme singt: „In der Welt ist's dunkel!“ Plötzlich aber reißt es gleich den anderen Kindern seine Händchen von den Augen und schmettert inbrünstig und voller Freude: „Leuchten müssen wir! Du in deiner Ecke, ich in meiner hier!“ Die Zeilen treffen wie ein Pfeil in die Mitte meines Herzens. Auf der Welt mag's noch so dunkel sein, leuchten müssen wir - jeder Einzelne von uns! Du in deiner Ecke und ich in meiner hier.
Es war ein trüber Tag, dunkel, finster und kalt. Ein Tag im November, der Licht ins Dunkel meiner Welt brachte. Licht durch dein Strahlen, mein kleines Mädchen, durch dein Lied und deine Worte. Es liegt an uns selbst, Licht zu geben, nicht an der Welt, nicht an den anderen. Leuchten müssen wir! Ich zünde mein Licht an, ich in meiner Ecke und du in der anderen. Ich lächle dich an und du lächelst zurück.