Unerwartete Weihnachtswunder

Gernot Lasser
Rudi fürchtete sich vor dem Heiligabend. Sie feierten mit der Familie seines Onkels. Er war klein, keine zehn Jahre alt. Ihre Armut aber erlebte er bewusst. Vati ein trinkender, gewalttätiger Tunichtgut. Mutter im Anwesen der Schwiegereltern nur geduldet, behandelt wie eine Dienstmagd.
Sie, seine beiden jüngeren Brüder und er hatten nichts zu erwarten. Außer, dass sie gezwungen waren, zuzusehen, wie ihre Verwandten großzügig beschert wurden. Wenn sie Glück hatten, fiel etwas Gebrauchtes, Getragenes für sie ab. Seine Mutter ansehend grub sich Gram in sein Herz. Sie litt darunter, ihren Kindern keine Freude zu bereiten. Verstohlen wischte sie ihre Tränen weg, die ihren Blick angesichts ihrer enttäuschten Buben trübten.
Sie war selbst in bitterer Armut aufgewachsen, eines von zehn Bergbauernkindern. Mutter kannte Hunger, mehr noch Leid. Aber ihre Kinder unglücklich zu sehen, brach ihr das Herz.
Er war heilfroh, wann der Heiligabend endete. Obwohl sie aus den warmen Räumen des Onkels in den ungeheizten Wohntrakt zurückkehrten. Sie waren nicht nur arm, sondern froren im Winter ständig. Häufig schleppte er Wasser im Eimer, wenn die Leitungen zufroren. Eisblumen an den Fenstern des Zimmers, das er mit Mutter und Brüdern teilte. Morgens überzog eine dünne Eisschicht aus gefrorener Atemluft die Bettdecke. Ihnen blieb nichts, als in steife, klamme Kleider zu schlüpfen. Wie hatte er sich gewünscht, an Heiligabend ein Geschenk zu erhalten. Eines, ein kleines Spielzeug nur. Aber er hatte gestern Abend vergeblich gehofft. Wie seine Brüder, wie die Mutter.
Die Zeiten besserten sich, nachdem sie das Gasthaus übernommen hatte. Mit nichts. Dreizehn angeschlagene Teller, weder Pfannen noch Lebensmittel, keine Getränke. Als starke Frau schaffte sie es. Sie war seine Heldin!
Er wurde Lehrer, unterrichtete an einer kleinen Dorfschule. Sah, dass es noch Armut gab. Kinder mit nur einer guten Hose für die Schule, einen Pullover. Zu oft lediglich ein paar Schuhe. Nicht alle waren in den Sechzigern arm. Aber trotzdem zu viele.
So sammelte er die Monate über Geld. An Heiligabend, oft bei klirrender Kälte und Schneetreiben, brachte er es heimlich an die Haustüren seiner armen Schüler. Sie sollten das Geldkuvert finden, wann sie ihre Häuser für die Christmette verließen. „Frohe Weihnachten vom Christkind“ war alles, was sie lasen.
Ihm wurde es immer warm ums Herz, sobald die Kinder nach den Ferien von ihren Weihnachtswundern erzählten. Seitdem gibt es sie an Weihnachtsabenden. Seit Jahrzehnten. Denn er vergaß nie, wie es sich anfühlt, arm zu sein.