Das Christkind hat was Böses g´sagt

Cornelia Morhardt
Zu Weihnachten trafen wir natürlich alle zu Haus bei den Eltern ein. Ein Auto nach dem anderen fuhr auf den Hof. Es wurde sich umarmt und geküsst, es wurden Gepäckstücke und Geschenkpäckchen ins Haus getragen, unsere Hunde und die Kinder meines Bruders sprangen aufgeregt an den Beinen der Erwachsenen hoch - es herrschte wiedersehensfreudige Glücksseligkeit.
In der Küche versammelten sich alle um die dampfenden Töpfe und bei einem Glas Sekt wurden die Neuigkeiten ausgetauscht. Es war so gemütlich und der Appetit auf all die Köstlichkeiten regte sich genauso wie die Vorfreude auf die Bescherung.
Mutter flüsterte: „Es gibt gleich Essen, aber jemand muss erst noch für die Kinder das Christkind machen!” Alle Augen sahen mich an. Es war eindeutig, dass ich als die Jüngste der Geschwisterschar über eine Widerrede gar nicht nachdenken musste. Gehorsam und überstimmt fügte mich und schlüpfte in das Kostüm. Den Kerzenhalter in der einen, das Glöckchen in der anderen Hand schlich ich mich über die Garage zur Terrasse. Von dort aus konnte ich sehen: Alles bereit! Drinnen waren die Lichter gelöscht, mein Auftritt wurde erwartet.
Leis, ganz leis, ließ ich das Glöckchen klingen. Stille. Noch einmal, etwas lauter, läutete ich mein Ankommen ein. Dann hielt ich die leuchtenden Kerzen hoch in den dunklen Nachthimmel und tastete mich langsam und vorsichtig voran. Die Kapuze weit über meinen Kopf gezogen, huschte ich federnden, leichten Schrittes in ausgefeilter Choreografie an den entscheidenden Fenstern und Türen vorbei. Von drinnen hörte ich die Kinder: „Oooooaaah, da ist es, Oma! Da! Ich hab´s gesehen!”, „Opa! Opaaaa! Da, da, das Christkind!”
Und dann passierte es: Ein kleiner, vereister Fleck auf der Terrasse und ich rutschte aus. Der Kerzenhalter glitt mir aus der Hand, die brennenden Kerzen flogen mir mitsamt dem klingelnden Glöckchen um die Ohren, ich traf rücklings auf dem harten Terrassenboden auf, ein heftiger Schmerz fuhr in mich hinein und aus mir heraus fuhr ein lautes, herzhaftes: „SCHEI….EEE!!!!"
Ächzend versuchte ich, mich wieder aufzurichten, spürte ein dumpfes, tiefes Brennen in meiner Seite und sammelte auf, was ich auf die Schnelle finden konnte: Kerzen, Glöckchen, Schuhe und Gliedmaßen. Humpelnd und schlurfend schlich das gebeutelte Christkind von dannen.
Beim Essen und später noch mehrmals an diesem Abend hörte man die Kinder sagen: „Aber gell, Oma, das Christkind hat was ganz Böses g´sagt!” In der Runde biss sich so mancher auf die Lippen und verkniff sich mit hochrotem Kopf das Losprusten, denn die Oma antwortete jedes Mal mit unmissverständlichen Blicken in die Runde. Aber mit tief gesenktem Kopf, mit vorgeschobenem Kinn und unter dem Versenden nahezu tödlicher Blicke - vor allem in meine Richtung - zischte sie ebenfalls noch mehrmals an diesem Abend: „Jaaaa, das Christkind hat etwas ganz Böses g´sagt. Aber heute ist Weihnachten und wir wollen es ihm noch einmal verzeihen!"