Die Favoritner Weihnacht

Edith Schachinger
Ich muss vorwegschicken: Ich bin ja nicht von da. Also nicht ortsansässig eingeboren in die Favoritner Kultur. Ich sehe mich eher als vorsichtig unparteiische Beobachterin des sich mir darbietenden Sittenbildes – stets bemüht, die tiefere Seele und das echte Wesen des Favoritners an sich und der Favoritner Weihnacht im Speziellen zu erforschen und zu verstehen.
Der tägliche Spaziergang – über den Reumannplatz, die Favoritenstraße entlang, über den Keplerplatz und wieder zurück – hilft da schon ungemein, um so ein paar Eindrücke zu einem Puzzle zusammenzusetzen.
Der Favoritner ist ein bunter Vogel:
Er läuft, bekleidet mit einer Rapid-Wien-Corona-Schutzmaske und rot-kapuzt hakenschlagend Richtung U-Bahn. Er trägt Taucherbrille und rosa Schimütze, während er sein faltbares E-Bike über den Zebrastreifen manövriert (bei Grün, nicht bei Rot, das muss dazu gesagt werden!). Sie macht Maske zur Mode, indem sie die dünnen Gummibänder gekonnt mit nahezu unsichtbaren Nadeln am Kopftuch feststeckt. Schaut nicht nur gut aus, ist auch praktisch: Herumfuchteln beim Rauf-und-Runtertun gibt's nicht mehr. Und sie kennt vor allem nix, wenn's kalt ist: Stulpen bis über die Knie sind genug, dazu ein Minirock und ein knappes Jackerl, und passt. Oberschenkel nackt und frei – das Wort Hämorrhoiden existiert nicht im Wortschatz…
Ja, die Favoritnerin ist ein bunter Vogel. Sie ist divers. Sie lässt sich nicht einkasteln in ein vorgefertigtes Bild, und sie lehnt es auch ab, ihre Weihnacht einzukasteln.
Die Favoritner Weihnacht ist nämlich genauso wie der Favoritner an sich:
Sie ist überall und so wie sich's gehört und ganz anders als erwartet.
Die Favoritner Weihnacht lässt sich als eingenetzter Christbaum im Untergestell eines Kinderwagens die Straße entlang schieben und steht als ein Haufen Einkaufssackerl auf dem Kinderwagen daneben (das Kind darunter ist dabei optisch nicht ausmachbar). Sie hängt als Weihnachtskugel neben der petersilienbundkaufenden Dame in schwarzem Hijab direkt am Gemüsestand und sie pickt als Plastikschneeflocke an der Innenseite des doppelflügeligen Altbauwohnungsfensters, aus dem es nach Lebkuchen riecht. Die Favoritner Weihnacht verschenkt Kekse von mazedonisch an deutschsprechende Nachbarn und lotst einen halben Kindergarten mit Laternen über den Kirchenvorplatz. Und sie trägt, munter auf türkisch brabbelnd, einen mannshohen Christbaum durch die Straße.
Die Favoritner Weihnacht ist genauso wie der Favoritner selbst. Sie ist laut und bunt und schief und freundlich und viel.
Eigentlich ist sie ein bisserl wie der Zaubertrank im Kessel vom Miraculix: geheimnisvoll blubbernd und faszinierend. Das Rezept kennt keiner. Ein Gebräu aus allen möglichen und unmöglichen Zutaten.
Aber schmecken tut es allen.