Lehrling des Christkindes

Weudl
Mit jedem weiteren Kind im Hause B. wuchs die alljährliche Tanne weiter in Richtung Wohnzimmerdecke. Zunächst gab es noch recht kleine, überschaubare Bäumchen, welche von meinen Eltern liebevoll aufgeputzt und mit richtigen Kerzen bestückt wurden. 4 Jahre nach mir folgte meine mittlere Schwester, das Bäumchen wurde zu einem Baum. Weitere 4 Jahre nach ihr kam unser Küken. Der Baum musste größer werden und er wurde es auch. Mittlerweile stand Jahr für Jahr eine gewaltige Nordmanntanne neben dem Kachelofen.
Mit 12 Jahren war mir bewusst, dass das Christkind aus Mama und Papa, Oma und Verwandten bestand. Doch meine beiden kleineren Schwestern glaubten noch blauäugig an das Christkind. Kurzerhand beschloss ich meinen Eltern zu helfen. Eingeweiht in die Tätigkeiten des Christkindes begann am Vortag des 24ten mein erster Lehrauftritt. Gemeinsam mit meinem Vater schleppte ich das monströse Teil eines Baumes in unser Wohnzimmer. Wir stellten den Baum probehalber auf. Dieses Monster war nicht nur groß, es war gigantisch und passte nicht ins Zimmer. Axthiebe blieben erfolglos, ein Stutzen schien unmöglich. Meine Mutter, pragmatisch veranlagt sagte einfach: Na, wenn so ist. Dann stellen wir es einfach im Wintergarten auf. Gesagt- getan und das Monster fand seinen Platz. Nach weiteren Axthieben und genauesten Einstellungen stand das Monster gerade und bis unter die Decke in all seiner Pracht im Wintergarten.
Ich schleppte die Kisten und Kartons mit Weihnachtsschmuck nach unten und dann fing meine Lehre so richtig an. Meine Mutter und mein Vater standen um den Baum. Behutsam wurde darauf geachtet, welche Kugelfarben mit welchem Lametta am Baum hängen sollten. Natürlich musste sich der Farbverlauf auch in den roten Kerzen wiederfinden. Kugel für Kugel wurde präpariert und in Handarbeit auf das Monster gehängt. Kleine glitzernde Christbaumkugeln gemischt mit großen, selbstbemalten und in unterschiedlichsten Formen fanden sich auf des Monsters Armen wieder. Kleine Holzfiguren: Schneemänner, Wichtel, Feen, und zahlreiche andere Figuren zierten das Grün der mächtigen Triebe. Silber glitzerndes Lametta wurde wild und doch mit Maß platziert. Wunderschöne, rote Kerzen klippste ich auf die starken Äste und als ich einen Schritt zurückmachte, staunte ich nicht schlecht. Ich staunte, denn das Monster war verschwunden und vor mir stand ein bezaubernder Christbaum. Meine Mutter packte vorsichtig den Stern aus und überreichte ihn mir. Papa nahm mich in die Arme und hievte mich hoch. Ich platzierte den Stern und war vollkommen zufrieden mit meiner, unserer Leistung.
Seelenruhig schlief ich ein. Die Aufregung bei unseren kleinen Geschwistern war riesig. Wir Kinder saßen auf den Stiegen und warteten bis das Glöckchen klingelte. Dann öffneten wir die Türe und ein Monster strahlte uns prachtvoll entgegen. Die Kleinen standen mit offenen Mündern da und ihre Kinderherzen überschlugen sich vor Freude.
Prädikat sehenswert.