Mein intimstes Weihnachtsfest

Sonja Schiff
Weihnachten 1990. Ich, eine junge Hauskrankenschwester, gerade wieder Single, mit schlechter Beziehung zu meiner Familie, stand vor einem einsamen Weihnachtsfest.
Es war der 23. Dezember. Ich besuchte meinen Patienten Herrn Rudi wie immer am Ende meiner Tour, denn nach ihm war ich keinen anderen Patienten mehr zuzumuten. Herr Rudi, 52 Jahre alt, Alkoholiker im Endstadium, bettlägerig, abgemagert bis auf die Knochen, bei meinen Kolleginnen verhasst, weil angeblich asozial, rauchte nämlich Kette und so stank ich nach einer Stunde Pflege bei ihm wie ein abgestandener Aschenbecher.
„Diese Weihnachten werden wohl meine letzten sein“ hörte ich Herrn Rudi plötzlich flüstern, mehr zu sich selbst als zu mir, während ich ihm gerade seinen Rücken wusch. Nach kurzem Schweigen fügte er hinzu: „Dabei habe ich noch nie ein richtiges Weihnachtsfest erlebt.“ Danach Stille zwischen uns. Mir raubte die Betroffenheit den Atem.
Am Morgen des 24. Dezembers schleppte ich, neben meinen Pflegeutensilien, auch einen kleinen Tannenbaum plus dazugehörigem Ständer die Treppen des Sozialbaus hoch, zerrte ihn ungesehen in Herrn Rudis Wohnung und stellte ihn im Bad ab. Nach der täglichen Pflege verabschiedete ich mich mit dem Versprechen, abends noch einmal vorbeizuschauen. Dabei fragte mich Herr Rudi: "Wo feiern Sie heute Weihnachten?“ Ohne Antwort und mit einem Schulterzucken verließ ich ihn.
Am Abend öffnete ich die Türe und marschierte, nach einem kurzen Gruß in Richtung meines Patienten, in das winzige Badezimmer. Ich behängte den kleinen Baum mit ein paar Christbaumkugeln, gab ein wenig Lametta drauf und einige Kerzen. „Was tun Sie denn heute so lang im Bad“ rief Herr Rudi etwas genervt aus seinem Bett. „Den Christbaum schmücken!“ antwortete ich und war neugierig auf seine Antwort. Doch er schwieg.
Als ich den kleinen Christbaum ins Zimmer trug, auf einem abgeräumten Kasterl platzierte und die Kerzen anzündete, begann Herr Rudi andächtig und mit bebender Stimme zu singen. „Es wird schooooo glei duuuumper, es wird schoooooo gleich Noooocht“.
Es gab Würstlsuppe, die Rudi nach einer halben Stunde wieder erbrechen musste, weil sein Magen eigentlich schon lange keine Nahrung mehr vertrug, dazu Rotwein und ein paar Vanillekipferl vom Supermarkt. Wir sangen einige Weihnachtslieder, ich las eine mitgebrachte Weihnachtsgeschichte vor und Rudi erzählte mir aus seinem Leben. Davon, dass er im Alter von fünf Jahren von zu Hause weggeschickt worden war, zum Arbeiten bei einem hartherzigen Bauern und dass er sein Leben danach irgendwie nie auf die Reihe bekommen hatte. Als ich mich nach etwa drei Stunden, stinkend wie ein Aschenbecher, von ihm verabschiedete, flüsterte Rudi: „Danke. So etwas hat noch nie jemand für mich getan.“
Am nächsten Tag war Rudi tot. Ich fand ihn für immer schlafend in seinem Bett. So kam es, dass ich ihm nie sagen konnte, dass das Weihnachtsfest mit ihm zu den schönsten, weil intimsten, meines Lebens gehörte.