Der fremde Bruder

Maresa May
Karim lebt bei seiner Mutter in Deutschland. In der Schule ist er interessiert, fleißig und klug. Nur seinen Vater sehen darf er nicht. Ein Telefonat ja, aber dass der Papa ihn für ein paar Tage zu sich nach Wien holt, das geht nicht. Seine Mutter möchte das so, egal, wie sehr sich Karims Vater auch bemüht, egal, wie sehr sich Karim das wünscht.
Seit Jahren schon haben Papa, Onkel, Tante und die Großeltern Karim nicht mehr gesehen. Seinen Cousin kennt er gar nicht, von seinen drei Halbgeschwistern kann sich nur die Älteste dunkel an ihn erinnern.
Dann geschieht ein kleines Weihnachtswunder. Karim darf die Weihnachtsferien bei Papa in Österreich verbringen.
Die Familie ist aufgeregt.
„Unser großer Bruder kommt heute!“, rufen die Kinder fröhlich, während sie mit Onkels Freundin die selbstgemachten Pizzen belegen. Dieses Jahr mit Putenschinken, denn der herbeigesehnte große Bruder wird von seiner Mutter streng muslimisch erzogen.
Dann ist der große Augenblick da, der glückliche Vater steht mit seinem Sohn im Arm vor der Tür. Seine Halbgeschwister stürmen auf ihn zu, als wäre er nie weggewesen, als würden sie sich ewig und gut kennen und nicht quasi einen Fremden vor sich stehen haben. Doch auch, wenn er nicht so behandelt wird, Karim fühlt sich fremd. Er kennt die Leute eigentlich gar nicht, mit denen er die nächsten zwei Wochen verbringen wird, sie feiern ein Fest, mit dem er nichts anzufangen weiß. Er gehört nicht dazu. Wie immer. Er hat eine andere Religion, er sieht anders aus. In Deutschland ist er der Araber, in Mutters Heimat, mit der ihm eigentlich nichts verbindet, ist er der Deutsche. Und hier? Er gehört nicht dazu. Da ist die Familie, dort ist er. Der Gast. Der Fremde.
Die Große hat gerade lesen gelernt, darum darf sie bei der Bescherung die Geschenke verteilen.
„Karim, das ist für dich!“
„Für mich? Wieso bekomme ich ein Geschenk?“
„Das Christkind ist ja nicht blöd, das weiß, dass du heuer bei uns bist!“
„Aber ich bekomme nie Geschenke. Ich bin Moslem!“
„Na und?“
Überrascht öffnet Karim sein Geschenk. Ein neues Videospiel. Genau, was er sich gewünscht hat. Während die anderen beschäftigt mit dem Öffnen ihrer Geschenke sind, nutzt Karim die Gelegenheit, um Onkels Freundin, die etwas abseits steht, heimlich zu fragen: „Warum schenkt ihr mir was?“
„Warum nicht?“
„Naja, weil… ich feiere doch kein Weihnachten.“
„Na und?“
„Und wir kennen uns ja eigentlich kaum! Und man beschenkt doch nur die Familie!“
„Aber du gehörst doch auch zur Familie!“
Karim muss diese Worte kurz verarbeiten, dann werden seine Augen wässrig und er fällt Onkels Freundin um den Hals. Er hat gerade ein viel größeres Geschenk erhalten, als das Videospiel. Er weiß jetzt, dass er dazugehört.
„Danke, Tante.“
„Noch sind Onkel und ich nicht verheiratet“, schmunzelt die Freundin. Doch Karim grinst nur und umarmt sie noch fester.
„Na und? Ich habe jetzt eine Familie. Und für mich gehörst du da auch dazu.“