Freundschaft für 10 Tage

Gertraud Weigl
Ich wachte im Zimmer auf; OP-Dauer war sehr lange, dementsprechend fühlte ich mich auch benommen, mir war schlecht und über mir hingen die Infusionsflaschen. Neben mir Johanna, Krebspatientin im Endstadium; Ernährung über die Sonde. Ich war Zeuge, wie sich die engste Familie von ihr verabschiedete. Der Ehemann, der ihre Hand hielt, die Tochter mit ihrer Enkelin; Jedes Mal ein tränenreicher Abschied. Ich versuchte in einem Buch zu lesen, sobald ich wieder etwas bei mir war. Johanna sorgte sich um mich, ich dämmerte immer wieder weg und dann fiel das Buch zu Boden. Sie war bereits bettlägerig, doch konnte ich erkennen, wie sie sich beschwerlich bemühte, aufzustehen. Später dachte ich, ich träumte, aber ich hatte das Buch wieder auf meinem Bett liegen. Ich sollte später erst bemerken, dass sie mir eine Münze mit einem Schutzengel ins Buch legte. Die Nachtschwester war ins Zimmer gekommen und konnte es nicht glauben; Johanna war tatsächlich aufgestanden; auch ihre Familie war sehr erstaunt. Abends sagte sie mir, ich konnte einfach nicht mit ansehen, wie du so hilflos da gelegen bist. Sie hat mich die ganze Nacht beobachtet. Nach 11 Tagen war ich zur Kontrolle. Ich habe es geahnt, denn wir hatten beinahe täglich Kontakt. Sie hatte gestern auf ein sms nicht geantwortet. Erst nach Stunden hat mir Ihr Mann zurückgeschrieben, dass sie gestern verstorben war. Ich musste mich selbst überzeugen und bin in unser Krankenhauszimmer gegangen. Da lag niemand mehr. Wir kannten uns 10 Tage. Die wertvolle Zeit, als wir nachts redeten, über alles, über das Leben und auch über den Tod. Die Schutzengel Münze habe ich in der Geldbörse. Es ist fünf Jahre her und erst vor ein paar Wochen habe ich es geschafft, ihren Kontakt zu löschen. Ob Begegnungen wertvoll sind, hängen nicht von einer Zeitdauer ab. Diese 10 Tage haben mich bereichert, ich war umgeben von einer warmherzigen Freundin, von deren Leben ich viele Details kannte. Eine Todgeweihte hat mir ihre Hilfe angeboten, als ich selber hilflos war. Die Münze habe ich zu einem Zeitpunkt entdeckt, als ich mit Schmerzen haderte und ich mir nicht vorstellen konnte, dass ich je wieder genesen werde. Und immer wieder verfällt man in die Alltagsroutine, nimmt alles selbstverständlich. Johanna hat nur ein Buch aufgehoben und genau das war das Besondere. Wir brauchen keine reißerischen Geschichten, es sind die stillen Momente, die unsere Seele nähren.