pixabay/coyot

Kinder mit Behinderung: „Schützen darf nicht wegsperren heißen“

Die Coronavirus-Krise trifft alle Schichten der Bevölkerung, nicht zuletzt die Kinder. In der öffentlichen Aufmerksamkeit bekommen sie oft weniger Beachtung, umso mehr, wenn sie eine körperliche oder geistige Behinderung haben. Doch gerade diese stärker gefährdeten Kinder – und ihre Eltern – leiden unter der Krise besonders.
Kindergarten, Schule, Nachmittagsbetreuung, Freunde, Freizeit – was Eltern in der aktuellen Krise logistische Meisterleistungen abverlangt, ist für Eltern von Kindern mit Behinderung nicht selten unlösbar und auch persönlich belastend. Denn während Kinder im Allgemeinen aktuell als weniger gefährdet durch das Coronavirus gelten, sind im Gegensatz dazu Menschen mit Behinderung aufgrund von Erkrankungen als Risikopatienten besonders bedroht.
Daher werden viele Kinder mit Behinderungen aktuell auch komplett zu Hause betreut, heißt es von den Organisationen, einerseits um das Ansteckungsrisiko zu minimieren, andererseits auch, damit diese Kinder durch das Besuchsverbot in den Wohneinrichtungen ihre Eltern als wichtige Bezugspersonen nicht verlieren. Für die Eltern bedeutet das eine starke persönliche Einschränkung und Zusatzbelastung, mitunter auch schlicht Arbeitsplatzverlust, wie eine betroffene Mutter gegenüber ORF.at erzählt.
pixabay/klimkin
Denn der erkämpfte dreiwöchige Zusatzurlaub ist meist aufgebraucht, Urlaub nur bedingt vorhanden, und in Zeiten von Kurzarbeit und weniger Aufträgen sind selbst willigen Chefs mitunter schlicht die Hände gebunden. Aktuell würden sich die Anrufe komplett überlasteter Eltern, die womöglich neben Job im Homeoffice auch noch Kinder ohne Behinderung zu Hause unterrichten müssen, häufen, erzählt Herbert Pichler, Präsident des Behindertenrats und des Bundesverbands für Menschen mit Behinderungen ÖZIV.
 

Wenig Optionen für Eltern

Das große Problem sei, dass ihr Sohn seine gewohnte Tagesstruktur mit dem Besuch einer Werkstätte verloren habe, erzählt Friederike Pospischil, Präsidentin der Lebenshilfe Niederösterreich. Zwar sei er schon 40, durch seine intellektuelle Beeinträchtigung sei er aber weiterhin wie ein Kind – das Alter spielt in der Betreuung von Menschen mit Behinderung oft eine untergeordnete Rolle.
pixabay/OrnaW
Unternehmungen außer Haus seien nicht einfach, erzählt Pospischil exemplarisch, denn ihr Sohn greife alles an und verweigere das Tragen einer Maske – Probleme, die auch Eltern mit jüngeren Kindern mit Behinderungen gegenüber ORF.at schildern. Entsprechend eingeschränkt sind vor allem Alleinerziehende, die ihre Kinder nicht einfach in den Supermarkt mitnehmen können, obwohl die Kinder gerne einkaufen würden und dabei Spaß hätten, wie eine andere Mutter erzählt. So bleibt Spazierengehen oder Radfahren im Freien.
Andere Optionen wie Kurzzeitbetreuungen seien begrenzt oder komplett ausgeschöpft, darunter Wohnplätze, erzählt Pospischil weiter. Die Versäumnisse der vergangenen Jahre würden jetzt umso stärker sichtbar.
 

Individuelle Betreuung für jedes Kind

Ist die schulische Begleitung von Kindern mit sonderpädagogischen Bedürfnissen auch in normalen Zeiten herausfordernd, ist sie aktuell durch Hürden wie Homeschooling besonders belastend, erzählt Petra Bauer, Direktorin des Zentrums inklusiver Schulen (ZIS 17) in Wien-Hernals. Für jedes Kind müsse es „eine eigene Idee“ für dessen Bildung auf dem jeweiligen Niveau geben, die man dann mit Onlinetools wie Zoom, WhatsApp und YouTube umsetzen kann – vorausgesetzt, es gibt die entsprechenden Geräte zu Hause.
pixabay/picjumbo_com
Viele ihrer Kinder hätten allerdings keine passenden Endgeräte, für diese würden dann Kuverts ausgegeben, in die auch Stifte reinpassen – denn auch diese seien oftmals nicht vorhanden. Dann beginne der aufreibende Prozess, dass die Lehrer den Kindern nachtelefonieren und im Gegenzug selbst jederzeit erreichbar sind: „Wenn sich ein Kind dann mal meldet, können sie nicht sagen, jetzt ist Wochenende, ich bin nicht im Dienst.“ Entsprechend erschöpft seien mittlerweile die engagierten Lehrer.
 

„Die Realität ist anders da draußen“

Von rund 15 bis 20 Prozent ihrer Kinder gebe es keine Infos, ob sie auch zu Hause für die Schule lernen, erzählt Bauer, im Endeffekt sei das aber auch nicht so wichtig: „Wir müssen mit den Kindern in Beziehung bleiben, denn nur so können wir sie später wieder überhaupt erreichen.“ In den vergangenen sieben Wochen hätten die Kinder andere Kompetenzen etwa beim E-Learning aufgebaut und sich vernetzt und selbst organisiert. Viele Kinder müssten auf jüngere Geschwister aufpassen und sich um den Haushalt kümmern. Oder müssten einem gewalttätigen Vater ausweichen. „Die Realität ist anders da draußen“, so Bauer.
Bauer selbst wäre es lieber, ihre Schule müsste jetzt nicht oder nur für die vierte oder achte Schulstufe öffnen, denn unter den gegebenen Umständen sei ein sinnvoller, kindorientierter Unterricht nicht möglich. Die Kinder müssten zwar keine Masken tragen, aber auch Lehrer müssten die Chance bekommen, sich und ihre Familie zu Hause zu schützen – eine Maske könne aber gerade bei Kindern mit Behinderungen Angst erzeugen. Zudem müsse man Abstand halten, was viele Kinder nicht verstehen würden, und mit Angst wolle man nicht arbeiten.
CoV: Mit Behinderung durch die Kris ORF
Sonderpädagogik lebt von Nähe und Kommunikation“, so Bauer – beides sei aktuell nur eingeschränkt möglich, es gebe kein Singen, kein gemeinsames Essen bei Tisch, kein gemeinsames Kochen, keine Bewegung, wenig zwischenmenschliche Beziehung. „Das ist wie eine Art Isolation.“ Wohlfühlen werde eine große Herausforderung für alle. Man sollte in ihren Augen auch nicht von richtigem Unterricht sprechen, sondern von einer „Notbetreuung“, damit sich auch die Eltern nichts erwarten, was aktuell nicht erfüllbar sei.
 

Wie kann es im Herbst weitergehen?

Wie es im Herbst weitergehen kann, ist für die Behindertenvertreter die große Frage. Die Angst vor einer zweiten Welle und deren Auswirkungen sei bereits groß, sagt Behindertenrat-Präsident Pichler. „Schützen darf nicht wegsperren heißen“, wie das früher oft der Fall war. In einigen Bundesländern werde überlegt, Kinder mit Behinderung in eigene Klassen zu stecken, sagt Albert Brandstätter, Generalsekretär der Lebenshilfe.
ORF
Für Eltern von Kindern in Tagesstätten und Wohneinrichtungen brauche es jedenfalls die Sicherheit, dass diese auch im Herbst wiederkommen könnten, sagt Pospischil, und dass der Platz bzw. die Finanzierung durch Land oder Bund nicht verloren geht. Organisationen müssten auch längerfristig planen und ihr finanzielles Überleben sichern.
ORF
Weitere Fragen wie die Möglichkeit einer Begleitung durch eine Vertrauensperson ins Krankenhaus im Falle einer Infektion müssten ebenso geklärt werden wie nötige Vorsichtsmaßnahmen abseits von absoluten Besuchsverboten – durchgängig heißt es gegenüber ORF.at, dass es viel zu wenig Schutzmaßnahmen wie Desinfektionsmittel, FFP2-Masken oder Platz für ausreichend Abstand – sofern bei einer intensiven Betreuung möglich – und Hilfe beim Organisieren gebe.
 

Vorplanung gewünscht

Jetzt sei Zeit, sich zu überlegen, wie man einen sinnvollen Schulbetrieb auch in Zeiten einer Pandemie, aufrechterhalten könne, sagt Bauer. Aktuell reagiere man von Pressekonferenz zu Pressekonferenz, es brauche aber Klarheit und entsprechend rechtliche Grundlagen. „Ich hätte gerne ein Ziel, mir wurde gesagt, ich soll echten Unterricht ermöglichen, das geht so aber nicht“, meint Bauer.
ORF
Es brauche eine entsprechende Vorplanung und auch einen Austausch mit den Direktoren, damit diese ihre Probleme schildern könnten – das finde aktuell allerdings strukturell nicht statt. Auch Hilfestellung bei der Umsetzung der Vorgaben sei hilfreich, sie arbeite nach bestem Wissen und Gewissen beim Erstellen eines Hygienekonzepts, aber das sei eigentlich nicht ihre Hauptkompetenz.
ORF
Trotz aller Widrigkeiten und Erschöpfung hätten sich alle Unterrichtenden motiviert für den Start des Schulunterrichts gemeldet, erzählt Bauer. Dann würden auch die Reinigungskräfte als Hilfe für den Schulwart, der in den letzten Wochen alles alleine machen musste, wieder kommen – denn diesen wurde das Betreten des Schulgebäudes wegen der Infektionsgefahr untersagt, obwohl die Schule in den vergangenen Wochen auch Betreuung ermöglicht hätte. „Das wird alles sehr, sehr schwierig und fordernd.
 

Links: