Auf der Flucht mit Kleinkind

Jakob Zitterbart
Ich „videokonferenze“ jetzt sehr oft. Dabei nimmt man ja dann auch auf voyeuristische Art am Privatleben von Menschen teil, zu denen man sonst gesunde Distanz pflegt. Mein Anlageberater etwa hängt seine Wäsche recht skurril über seine Möbel zum Trocknen auf. Eine taffe Anwältin versetzt zwar viele erwachsene Männer in Angst und Schrecken, ist ihrem ca. fünfjährigen Sohn jedoch überhaupt nicht gewachsen. 
Nach einer langen Konferenz mit Anna gleiten wir ins blödeln ab. Sie macht mich irgendwann darauf aufmerksam, dass sie glaube in meiner Frisur brütet irgendein Federvieh. Relativ schlagfertig frage ich, ob sie sich denn bewusst sei, dass sie Eigentümerin asymmetrischer Nasenlöcher wäre. Bodyshaming deluxe quasi. 
Sie weitet ihre schönen Augen so, dass ich ein bisschen Angst habe ihre Augäpfel springen in die Webcam. Man ist ja wirklich nicht vorteilhaft abgebildet. Auch daran gewöhnt man sich. Sie meint, dass es zu den unterschiedlichen Nasenlöchern eine Geschichte gibt, die sie mir unmöglich erzählen könne. Was mein Interesse exponentiell derartig gesteigert hat, dass Virologen ganz schlecht werden würde. 
Minuten später hatte ich Anna weichgeklopft und bekam die Nasenlöcherstory serviert. Rückblickend war es das Highlight der Woche:
„Der Papa ist mit mir zum Wiener Eislaufverein gefahren, um mir das Eislaufen beizubringen. Naja, er musste dann aufs Klo. Ich sollte am Rand warten. Aber das Eis war so verlockend ich wollte heimlich eine kleine Runde drehen und ich dachte in dieser Zeit, dass ich das Eislaufen schon voll drauf hätte. Hatte ich auch auf den ersten Metern. Dann aber nicht mehr so und irgendwann dann gar nicht mehr. Ich bin Vollgas gegen die Bande geknallt und hatte eine blutende Nase. Alles war rot, das Eis. Meine Eislaufschuhe und mein rosa Skianzug. Sofort waren viele Menschen um mich herum. Der Papa ist dann auch bald zurückgekommen. Er muss den Schock seines Lebens gehabt haben. Ein netter älterer Mann hat ihm kurz auf die Schulter getippt und gesagt, dass die Rettung schon verständigt wäre. Seine schreckgeweiteten Augen werde ich nie vergessen. Papa hat mich gepackt und ist losgelaufen. Die Umstehenden waren so perplex und haben uns nicht aufgehalten. Papa ist also zu Fuß und mit blutendem, brüllendem Kind quer durch die Stadt geflohen. Wir haben als Polen den klassischen polnischen Abgang gemacht. Ich wundere mich heute noch, warum uns niemand gestoppt hat. Meine Nase wurde nie behandelt und darum schauen meine Nasenlöcher aus wie von Picasso gemalt.“
Ich muss dumm aus der Wäsche geschaut haben und verstand nur Bahnhof. „Also wir waren ja damals illegal im Land, Papa hatte Angst, dass sie mich behalten und ihn abschieben“. Ihr akzentfreies Deutsch mit leicht wienerischem Einschlag verleiht der Offenbarung was Skurriles. Sie lacht dabei als ob die ganze Story unglaublich komisch wäre. Ich lache mit, aber mir wird klar wie viele Themen mir überhaupt nicht bewusst sind, da sie mich nicht betreffen.