Ich will singen!

Stefan Reitbauer
Wie jedes Jahr begann die Weihnachtszeit für unseren Schulchor bereits Anfang Oktober. Die Ansprüche der Schülerinnen waren hoch und schöne Chormusik für das Weihnachtskonzert will ausgiebig geübt sein. Bereits über die Sommermonate sichtete ich mein persönliches Archiv und stöberte in den Schubladen der Musikalienhandlung.
Der Mädchenchor der Oberstufe freute sich in jenem Herbst über zahlreiche neue Stimmen. Eine davon gehörte Özlem, eine junge Frau mit wachen, offenen Augen, die sie mir allerdings vorerst nur äußerst selten zuwandte. Sie trug einen Hidschab und lebte ein recht zurückgezogenes Schülerinnenleben, bedacht auf die eigene Unsichtbarkeit. Ihr Wesen und ihre Ausstrahlung hielt sie buchstäblich bedeckt. Die ausgesprochen sozialen Bemühungen ihrer Klasse prallten an Özlem ab.
Umso erstaunter war ich, als sie beim ersten nachmittäglichen Treffen unseres Chores in der zweiten Reihe zu meiner Rechten Platz nahm.
„Ich will singen! Zweite Stimme.”
Mehr war in der kleinen Vorstellungsrunde an diesem Tag nicht aus Özlem herauszubekommen. Nun, schon bald zog der Winter ins Land und wir kamen gut voran. Die Proben vergingen wie im Flug, das Weihnachtskonzert nahte mit großen Schritten.
An einem nebligen Chornachmittag Anfang Dezember – die anderen Mädchen hatten die Klasse bereits verlassen – trat Özlem zu mir ans Klavier und erklärte in knappen Worten, sie könne beim Weihnachtskonzert unter gar keinen Umständen mitsingen. Ihr Glaube verbiete ihr so etwas. Ich versicherte ihr, dass ich absolut nichts dagegen hätte, wenn sie ihr Kopftuch auch beim Auftritt tragen würde, aber dass ich auch verstehen könne, dass sie als Muslima bei einem Weihnachtskonzert nicht singen möchte.
„Nein, Herr Professor, darum geht es nicht. Ich will und ich darf auf keiner Bühne stehen. Ich werde mich sicher nicht öffentlich zur Schau stellen.”
Özlems Stimmlage und ihre diesmal klar in meine blickenden Augen sprachen eine deutliche Sprache. Natürlich musste ich ihre Entscheidung akzeptieren. Meine Betroffenheit jedoch konnte ich wohl nicht verbergen.
Die ersten Gäste waren bereits eingetroffen, der Saal füllte sich zusehends. Es lag wieder diese wohlige, süchtig machende Anspannung des nahenden Auftritts in der Luft. Die Generalprobe am Vormittag war gut gelaufen. Während ich letzte Adjustierungen an den Bühnenelementen vornahm, stand plötzlich Özlem vor mir.
„Bitte, darf ich doch mitsingen?” Ich war perplex.
„Aber ja, freilich.” Der Anflug eines Lächelns. Und weg war sie.
„Özlem, ich freu mich”, rief ich ihr noch nach …
Da waren sie nun alle auf der Bühne. Beinahe vierzig strahlende, singende, mutige und freie junge Frauen. Es war ein guter Abend. Und nicht nur ich war augenscheinlich glücklich.
Einige Wochen später stand eine der Sängerinnen am Ende der Probe abermals vor meinem Klavier. „Herr Professor, wissen Sie eigentlich, was mein Name auf Deutsch bedeutet?”
„Özlem – das heißt ‘Sehnsucht’ …”