Winterstille

Isa Hörmann
Der erste Schnee, selbst heuer fällt der erste Schnee. Kristallgleich. Ein lautloser Tanz zwischen Fichten und Tannen. Zart bedeckt ist das Waldreich. Früh am Morgen zieht es mich hinauf, dorthin, wo die „Schöne Aussicht“ wartet. Den Steig entlang gehe ich Schritt für Schritt in der Winterstille, neben mir verläuft eine Tierspur.
Niemand sonst ist unterwegs, nur mein Hund und ich. Die Stimmen des Waldes klingen leise und ich bade in der Geborgenheit meiner Heimat. Hier ist es ruhig. Hier ist es gut. Der schneeblasse Geruch von Kälte und Nadelgehölz lässt mich innehalten. Ich atme ein und schaue überwältigt um mich.
Plötzlich taucht ein Reh vor mir auf. Es verweilt nur wenige Meter von uns entfernt. Das scheue Tier weiß nicht, wie anmutig und schön es ist. Wie unfassbar schön. Unsere Augenpaare treffen sich. Weder das zauberhafte Geschöpf bewegt sich von der Stelle noch ich. Wir sind in unseren Blicken versunken und ich verliere die Zeit. Ein entferntes Knacksen eines Astes und das Reh verschwindet im Flockenspiel.
Weihnachten naht. Mein geliebtes Weihnachten. Während es stürmt und meine Wangen bereits brennend rot sind, spüre ich das Leben. Ich bin erfüllt von glücklichen Momenten, gehe über vor Dankbarkeit. Da sind Menschen, die mir nahe sind und Menschen, die ich schmerzlich vermisse. Wie gerne würde ich jetzt begegnen, umarmen und nicht mehr loslassen, nie mehr … In Gedanken ist das möglich, es zu spüren auch.
Weihnachten berührt. Verbindet. Trennt. Zauber und Schmerz liegen oft nah beieinander. Einige Jahre ist es her, doch die Erinnerung ist lebendig. Der Christbaum, von Kerzen erhellt. Gemeinsam sang unsere Familie, vier Generationen, “Stille Nacht, heilige Nacht”. Die Augen meines Großvaters und meine fingen einander auf, füllten sich mit Tränen und wir beide wussten in dem Moment, dass wir dieses Lied zum letzten Mal zusammen singen würden. Es war unser geheimes Verabschieden. Ein Dialog, den nur wir verstanden. “Schlafe in himmlischer Ruh …” Drei Tage später waren die strahlend blauen Augen meines Großvaters für immer geschlossen.
Im Wald wütet kein Stress. Dort gibt es keine Geschäfte. Keinen Glühwein. Keine Adventfenster. Nichts Materielles, dafür aber Geschenke des Himmels, der Natur. Reichlich, so reichlich! Der Heilige Abend wird heuer anders sein. Danken statt wünschen. Eine Familie, gute Freunde, ein Zuhause zu haben, in Frieden leben zu dürfen, hoffnungserfüllt dem neuen Jahr entgegenzulächeln … Werden wir still und schätzen wir wert.
Ich zünde eine Kerze an. Für den Moment, der berührt. Für die Einsamen. Für alle, die frieren, hungern, leiden müssen. Für die Heimatlosen. Für die Liebenden. Für die Wärme aller Herzen. In der leisesten Nacht.
Möge dieses Licht ein Zeichen des Vertrauens sein, in eine Kraft, die stärker ist, als alles andere auf dieser Welt.
Diese Kraft heißt Liebe.