Wie Weisheit in die Schokolade kam

Muriella
Im Jahr meiner Scheidung blickte ich mit ziemlich großer Unsicherheit dem nahenden Weihnachtsfest entgegen. Wie sollte ich es heuer unter den so veränderten Umständen bloß gestalten? Wer würde den Baum in den Ständer zwingen? Welcher Elternteil sollte an welchem Feiertag das Kind bekommen? Würde es gelingen, eine „halbe Familie“ an diesem sensibelsten aller Familientage als vollwertig durchgehen zu lassen? Und vor allem, wohin mit Schmerz und Trauer über das zerbrochene Glück? Im Notfallmodus tendiere ich ganz klar zum Pragmatismus; diese Gabe hat mir auch in jenem Jahr ermöglicht, einen für alle Beteiligten akzeptablen Weg zu organisieren.
Am Weihnachtsabend traf schließlich eine illustre Runde von Familienmitgliedern in meiner kleinen Wohnung ein. Sogar meine heißgeliebte Oma nahm eine weite Anreise auf sich, um sich persönlich vom Wohlergehen ihrer ersten Enkelin zu überzeugen. Die beherzte, kluge Dame wusste in schwierigen Situationen immer, was zu tun war. Sie meinte, wenn du nicht mehr weißt, wie es weitergehen soll, dann versuche nur, einen einzigen Tag zu überstehen. Und dann noch einen und noch einen. Irgendwann ist es gut. Heute –viele Jahre danach- weiß ich, dass sie mir damals eine der wichtigsten Weisheiten meines Lebens vermittelt hat.
Als die Geschenke verteilt wurden, drückte mir Oma mit verschmitztem Lächeln eine stattliche Schokoladefigur in die Hand. Beim genauen Hinsehen erkannte ich in der dunkelglänzenden Figur –naja, wie soll ich sagen? - eben einen richtigen Kerl. Mit durchtrainiert muskulösen Schultern, Waschbrettbauch und knackigem Hinterteil grinste er lasziv aus dem raschelndem Zellophan heraus. Leicht peinlich berührt über dieses unerwartete Präsent wollten mir keine passenden Worte dazu einfallen. Doch Oma kam mir schelmisch zuvor. „Wenn du nun schon keinen Mann mehr hast, dann schenk ich dir eben einen. Falls er dir nicht gefällt, kannst du ihn immer noch aufessen!“ Rundum einsetzendes Gelächter und liebevolles Gespött von allen Seiten lösten die Spannung augenblicklich auf und ich räumte dem schokoladigen Traummann einen Ehrenplatz an der Stirnseite unserer zusammengebastelten Festtagstafel ein.
Ein fröhliches, lebhaftes Weihnachtsfest nahm seinen Lauf, es wurde geschwatzt, getrunken, gelacht. In einem nachdenklichen Moment ließ mich ein Blick auf den süßen Schoko-Kerl stutzen. Irgendwie sah der Adonis verändert aus. Gar nicht mehr so gnadenlos gut gebaut. Eher schräg und in der unteren Körperhälfte zu kurz. Bei genauerer Betrachtung stellte sich heraus: Niemandem war aufgefallen, dass ich dem Prachtkerl nicht nur einen Ehrenplatz am Tisch, sondern zugleich eine Position direkt vor der Heizung zugedacht hatte! So war es gekommen, dass der schönste aller Männer vor mir einknickte und regelrecht zerfloss.
Viele Lachtränen später war mir klar, dass das Überstehen dieses Tages wirklich gut ging. Morgen würde es wieder gut gehen und den Tag darauf auch.