Späte Versöhnung

Helga Stadler
Wann immer meine Mutter meine Handlungen oder Verhaltensweisen missbilligte und mich mit Worten bestrafen wollte, zog sie gerne ihren Vater zum Vergleich heran, „du bist genauso wie dein Großvater!“ Welche negativen Charaktereigenschaften oder Eigenarten sie konkret damit meinte, wusste ich nicht als Kind. Denn ich kannte diesen Mann, dem ich angeblich ähnlichsah, und der nur zwei Dörfer weiter wohnte, nicht. Er war weder bei der Heirat meiner Eltern noch bei meiner Taufe oder sonst einer Familienfeier anwesend. Er glänzte mit Abwesenheit – wie schon beim Aufwachsen seiner Tochter. Dafür gab es aber einen gewichtigen Grund, lange Kriegsjahre als Soldat hinderten ihn daran.
Die Jahre zogen vorüber, inzwischen erwachsen, hatte ich mit dem Ausfall beider Großväter, mein Opa väterlicherseits starb lange vor meiner Geburt, leben gelernt. Nur ein einziges Mal bei der Begräbnisfeierlichkeit einer Tante sah ich einen Mann mit drahtig-jugendlicher Statur und eisblauen Augen im Nebenzimmer bei den Männern sitzen.
Als meine Großmutter, seine Frau – wir hatten immer engen Kontakt zu ihr – und er gleichzeitig schwer erkrankten, nahm er die Verbindung zu seiner einzigen Tochter, nach über 25 Jahren Funkstille, wieder auf. Er brauchte dringend Hilfe. Plötzlich wurden er und seine Geschichten Mittelpunkt am Mittagstisch.
Dann kam der zweite Weihnachtstag, Stefani. Zum ersten Mal, mit 21, sollte ich das Elternhaus meiner Mutter betreten, zum ersten Mal mit dem Mann zusammentreffen, den ich nur aus angstbesetzten Erzählungen der Verwandten kannte. War er wirklich dieser Unmensch, vor dem sich seine Mitmenschen fürchteten?
Die kleine Stube, Küche und Wohnraum in einem, der Holztisch, den er selbst – ehemals Zimmermeister – getischlert hatte, reichten gerade aus, um uns sechs Personen zu beherbergen. Draußen bereits dunkel mit starkem Schneefall, innen gedämpftes Licht und wohlige Wärme, die der Holzofen verströmte. Freundliche Begrüßung, wir setzten uns. Oma sichtlich nervös, servierte uns Tee mit Rum und selbstgemachte Kekse.
Worüber wir sprachen, erinnere ich mich nicht mehr, still und andächtig beobachtete ich ihn, meinen Großvater. Er saß da, ganz nah, mir gegenüber – freundlich, etwas verlegen und wortkarg. Öfters verzog er schmerzerfüllt sein Gesicht, fluchte leise, lag doch eine Operation erst wenige Wochen zurück. Nichts überschattete die heimelige Atmosphäre, nichts deutete auf ungelöste Familienkonflikte hin. Eine friedliche, versöhnliche Stimmung umgab uns, als wir Abschied nahmen. Mein geheimer Weihnachtswunsch war in endlich in Erfüllung gegangen!
Gefrierender Nebel machte die Heimfahrt schwierig. Als wir eine Stunde später Zuhause ankamen, läutete das Telefon. Meine Mutter lief zum Apparat, ließ den Hörer fallen und flüsterte tonlos … ihr Vater, mein Großvater, sei vor wenigen Minuten friedlich auf seinem Sofa entschlafen. Für immer.
Ich hatte einen Großvater – für wenige Stunden!