Rorate

Hildegard Bell
An einem Samstag im Advent begleitete ich Mutter in die Kirche. Nicht die Tatsache an sich störte mich, aber die Uhrzeit. Mutter bestand auf die nachtschlafende Zeit und die Formulierung: Heilige Messe. Vielleicht wurden diese Kirchenfragen wichtig mit 89 Jahren, vielleicht gab es Pluspunkte und man durfte die Stufen auf der Himmelsleiter schneller hinaufklettern.
Freitagabend der Erinnerungsanruf. „Kind, denkst du an die heilige Messe? Sei pünktlich!“ Natürlich war ich pünktlich.
„Guten Morgen meine Liebe“, sagte Mutter zur Begrüßung.“ Schön, dass du mich begleitest, so findest auch du den Weg in die Kirche.“ Ich ignorierte den letzten Teil des Satzes, wollte sie umarmen. Sie zuckte zurück. „Bring meine Haare nicht in Unordnung, erst gestern war ich beim Friseur.“ Schon tastete sie mit beiden Händen über die Hochsteckfrisur. "Entschuldigung“, sagte ich und musste lächeln. An ihrer Stirne zeichnete sich der Abdruck des Gummis ihres Haarnetzes ab. Ich wusste, Mutter würde in den nächsten Tagen mit dem Netz auf dem Kopf schlafen, der Frisur zuliebe.
Sie hatte sich elegant gekleidet zu diesem Anlass. Eingepackt in schwarzem Persianermantel, getüpfelter Schal, schwarze Lederhandschuhe. Mutter sah gebrechlich aus in ihrem schwarzen Pelz. Aber man sollte sie nicht unterschätzen. Ihr Wunsch war Befehl. So auch der gemeinsame Kirchgang im Advent.
Kaum hatten wir die Kirche betreten, führte der erste Weg zum Weihwasserbecken. Mutter streifte den Handschuh ab, war in Begriff einen Finger mit Weihwasser zu benetzen, stockte im letzten Moment. Vielleicht dachte sie an das ungute Wort „Bakterien“. Nein, Finger in bakterienverseuchtes Wasser zu tauchen wäre grob fahrlässig.
Beim ersten schrillen Halleluja schritten wir durch das halbdunkle Mittelschiff. Mutter bestand darauf in einer der vorderen Reihen zu sitzen.
Endlich, da, ein Platz mit bester Sicht auf den Altar. Gerne rückten die Andächtigen zusammen. Man kannte sie ja, meine Mutter. Ich huschte zurück, setzte mich in die letzte Bank, schloss die Augen. Ein Knarzen im Mikrophon. Die Predigt des Pfarrers.
Was war jetzt schon wieder? Ich spürte die Unruhe, öffnete die Augen. Der Pfarrer war mitten im Satz verstummt. Bewegung in den vorderen Reihen. Hälse wurden gereckt, Köpfe verdreht, Finger zeigten auf mich, jemand rief: “Ihre Mutter, ihre Mutter.“ Ich sprang auf und dann sah ich es, das Rauchwölkchen über ihrem Haupte. Meine Mutter brannte.
Ich rannte den Mittelgang nach vorne, Wortfetzen klangen an mein Ohr: „Nein, nicht hier, nicht in der Kirche.“
„Warum nicht?“, hörte ich Mutter fragen. Da wusste ich, sie war wohlauf.
Sie hatte sich eine Zigarette angezündet, während der Predigt. Vielleicht war ihr dabei fad geworden. Bald würde sie es vergessen haben. Die Kirchgänger sicher nicht.
Ich führte Mutter hinaus in das frühe Licht des Morgens. Ihr verträumtes Lächeln ließ mich selbst überlegen: Warum nicht? Der Himmelvater hätte sie sicher gewähren lassen.